24.09.2020 von Food Ninja
Hélène Vuille setzt sich seit 22 Jahren dafür ein, dass Lebensmittel nicht weggeworfen, sondern an bedürftige Menschen verteilt werden. Erfahren Sie mehr über Hélène Vuille und ihren Büchern auf ihrer Webseite
Food Ninja: Kannst du Dein Projekt unseren Leserinnen und Leser in 3-4 Sätzen kurz vorstellen?
Hélène Vuille: Seit 1998 setze ich mich dafür ein, dass noch essbare Tagesfrischprodukte an Bedürftige verteilt werden, anstatt diese wegzuwerfen. Die Geschichte begann mit einem Caritas-Hospiz – ein Zufluchtsort für 33 Männer. Heute sind diese Tagesfrischprodukte für die Heimbewohner, wie auch für viele andere karitative Institutionen, Obdachlosenheime und Abgabestellen in Gemeinden nicht mehr wegzudenken.
Als Food Save Pionierin bekannt, kämpfst du schon lange gegen die Missstände unserer Gesellschaft. Vor über 20 Jahren hat das seinen Lauf genommen. Wie hat sich das damals ergeben?
Es war dieser eine Moment an diesem einen Abend im Jahr 1998, als ich nach meiner Arbeit kurz vor Ladenschluss noch ein Brot kaufen wollte und mit ansehen musste, wie die Verkäuferin an einer Gourmessabar sämtliche noch essbaren Tagesfrischprodukte –Lebensmittel wie Brote, Wähen, Feingebäcke, Snacks, Sandwiches, Canapés, Salate, Birchermüesli, Fruchtportionen, Torten und Patisserie etc. in einer grünen Tonne entsorgte, und es war wohl dieser bestimmte eine Moment, der nach dem darauffolgenden 90-minütigen Gespräch mit dem verantwortlichen Filialleiter meinem Leben und meiner beruflichen Tätigkeit eine andere Richtung geben sollte. Nach initial hartnäckiger Verweigerung und unnachgiebigen Argumenten des Filialleiters auf meinen Vorschlag, diese Lebensmittel an obdachlose Menschen zu verteilen, war er schliesslich einverstanden. Wohl auch, weil sein Feierabend längst begonnen hatte und er nicht glaubte, dass ich tatsächlich wiederkommen würde.
Wie hat sich deine Arbeit über die Zeit entwickelt und was waren deine ersten Meilensteine?
Seit 22 Jahren bringe ich nun Tagesfrischprodukte in dasselbe Obdachlosenheim. Dank der Mithilfe und Unterstützung meines Mannes und unseres Sohnes Raphael, waren bald schon 3 Abende pro Woche fest in mein Leben integriert. Auch heute noch bringen mein Mann und ich 2x wöchentlich Lebensmittel in dieses Heim. Als ich sah und miterlebte, was diese Tagesfrischprodukte für Menschen, welche auf der Rückseite des Lebens leben müssen bedeuten, fasste ich nach wenigen Monaten den Entschluss, mein Projekt auf andere Migrosfilialen und andere Obdachlosenheime auszubauen. Dies war der Anfang eines jahrelangen, schwierigen Kampfes gegen die Verschwendung von Lebensmitteln – gegen den “Orangen Riesen” auch, bei dem ich mich oftmals wie David gegen Goliath fühlte. Gleichzeitig kämpfte ich auf politischer Ebene, denn es war mir schon sehr bald klar, dass nur eine eidgenössische Lösung schweizweit etwas bringen würde.
Es gab sehr viele Menschen auf der Strasse damals - oder im Heim, welche mir ihre Geschichte erzählten – ihre Geschichte bis zu dem Punkt in ihrem Leben, wo sie mit dem normalen Alltag aufgehört hatten. 2012 schrieb ich mein erstes Buch "Im Himmel gestrandet – Menschen auf der Rückseite des Lebens”. Erst mit dem Erscheinen dieses Buches und dem damit einhergehenden Druck der Öffentlichkeit und der Medien, bekam mein Projekt bei der Migros einen anderen Stellenwert. So erklärte sich die Migros im Sommer 2013 bereit, mit mir (weil ich als Einzelperson nicht gegen die Migros antreten konnte) und der Caritas als Vertragspartner, einen Vertrag zu unterzeichnen, der die Verteilung von Tagesfrischprodukten an bedürftige Menschen in jeder Migrosfiliale der Migrosgenossenschaft Zürich erlaubt.
Es war dieser eine Moment an diesem einen Abend im Jahr 1998, als ich nach meiner Arbeit kurz vor Ladenschluss noch ein Brot kaufen wollte und mit ansehen musste, wie die Verkäuferin an einer Gourmessabar sämtliche noch essbaren Tagesfrischprodukte –Lebensmittel wie Brote, Wähen, Feingebäcke, Snacks, Sandwiches, Canapés, Salate, Birchermüesli, Fruchtportionen, Torten und Patisserie etc. in einer grünen Tonne entsorgte
Du bist sehr engagiert. Auch in der Politik bist du aktiv. Kannst du unseren Leserinnen und Leser erzählen woran du gearbeitet hast und wie es Zustande kam?Am 12. März 2020 einen Tag bevor die Session der Bundesversammlung wegen Corona abgebrochen wurde, kam die Motion durch, für die ich seit mehr als 20 Jahren kämpfe: Im Lebensmittelgesetz wird festgehalten, dass Lebensmittel, die bisher nach Ladenschluss im Abfallkübel landeten, an gemeinnützige Organisationen abgegeben werden dürfen, um sie an arme Menschen zu verteilen. Mein Mann René, Jurist und Haftpflichtspezialist formulierte den Passus – gemeinsam mit Nationalrätin Martina Munz zusammen schrieb ich die Begründung. Der jahrelange Kampf gegen den „Orangen Riesen“ und der Kampf für diese gesetzliche Verankerung auf politischer Ebene waren „Ordner füllend“. Hätte ich damals nicht mein erstes Buch „im Himmel gestrandet“, in welchem ich die Lebensgeschichten von Menschen, die auf der Rückseite des Lebens leben müssen - aber auch die Geschichte mit der Migros beschreibe, nicht herausgegeben - und ohne den darauf folgenden medialen Druck, wäre das Projekt gescheitert. Ich wusste, es braucht dringend eine gesetzliche Verankerung, um schweizweit etwas zu bewirken. An jedem Vortrag und an jeder Lesung habe ich auf die Wichtigkeit einer Gesetzesanpassung hingewiesen. Gleichzeitig bin ich jahrelang an unzählige Politikerinnen und Politiker verschiedener Parteien gelangt – namhafte Politikerinnen und Politiker, die sich meist nur bis zu ihrer Wiederwahl für mein Projekt interessierten.
Du arbeitest mit mehreren Ausgabenstellen zusammen. Wie kann man euch als Konsumentin oder Konsument am besten unterstützen?
Es sind viele Bäckereien, Hofläden, auch Lebensmittelhersteller (die nicht genannt werden möchten) dazu gekommen. Wir sind auf die Hilfe freiwilliger Helferinnen/Helfer angewiesen, welche mit ihrem Auto Tagesfrischprodukte abholen und an Bedürftige verteilen. Insbesondere durch das neue Lebensmittelgesetz erhoffe ich mir eine schweizweite Verteilung von Tagesfrischprodukten an Bedürftige. Da werden wir noch viele weitere Helfer brauchen.
Food Waste ist – auch dank dir – heute ein politisches Thema. Nicht nur unsere Food Ninja, auch viele weitere Akteure, sei es aus wirtschaftlichen, ökologischen oder ethischen Gründen, arbeiten daran Food Waste zu reduzieren. Wie denkst du über diese Entwicklung? Und wo siehst du heute den grössten Handlungsbedarf?Niemand sprach damals von “Food-Waste” – ein Wort, das man früher noch gar nicht kannte. Erst im Laufe der Jahre wurde “Food-Waste” zum Thema. Seit 1998 verteilen wir Tageschfrischprodukte – sogenannte 24-Stundenprodukte an Bedürftige. Mit der Zeit kamen andere – wichtige Institutionen dazu, ‘Tischlein Deck dich’ - ’die Tafeln’ etc., bei denen es nicht um Tagesfrischprodukte geht, sondern um Gemüse, Obst, abgepackte Lebensmittel etc., welche komplementär zu uns arbeiten.
Wichtig ist, dass ein Umdenken statt gefunden hat und “Food Waste” schweizweit mehr und mehr thematisiert wird.Und zu guter Letzt: Was ist dein Lieblingslebensmittel?Ich habe ganz viele Lieblingslebensmittel und ich freue mich jedes Jahr auf die saisonalen Früchte. Ganz besonders mag ich im Sommer den erfrischenden Geschmack der Wassermelone. Ausserdem scheint sie gut für den Blutdruck und für das Immunsystem zu sein. Zumindest gibt es laut meinem Sohn, der über Aminosäurenaufnahme im Dünndarm forscht Studien, die dies andeuten. Und ich liebe jegliche Sorten Glaces und andere Süssigkeiten.
Und was tust du, wenn es mal nicht mehr ganz frisch ist?
Überreifes Obst oder Gemüse lässt sich sehr gut zu feinen Gerichten verarbeiten. Suppen – Eintöpfe – Aufläufe aller Art. Brot backe ich mit ein paar Tropfen Wasser regelmässig auf.Das Wichtigste: ich verlasse mich auf meine Augen, meine Nase und meinen Gaumen.
Die Verkäuferin in der Bäckerei oder an der Gourmessabar sagt mir ja auch nicht, bis wann ich die Crèmeschnitte zu essen habe. Das liegt im Ermessen eines jeden Einzelnen.
Vielen Dank, dass du dir Zeit für uns genommen hast!
Ich habe das sehr gerne gemacht.
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